- Gesetzlicher Rechtsschutz: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die überlange Verfahrensdauer von Gerichtsverfahren in Deutschland mehrfach gerügt und die Bundesrepublik mit der Entscheidung 46344/06 vom 2. September 2010 dazu verpflichtet, ein Jahr nach Rechtskraft dieses Urteils einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren einzuführen. Dem ist die Bundesrepublik durch das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ vom 24. November 2011 (BGBl I 2011, 2302) formal nachgekommen. Gemäß Art. 9 dieses Gesetzes ist an § 155 FGO ein Satz 2 angefügt worden, der die Anwendung des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes auf Finanzgerichtsverfahren vorschreibt. Dort ist in § 198 GVG bei einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens eine „angemessene“ Entschädigung vorgesehen (Abs. 1). Der so geschaffene Rechtsschutz beinhaltet also nicht einen Anspruch der benachteiligten Partei auf Beschleunigung des Verfahrens und schnellere Bearbeitung, sondern sieht nur eine Kompensation für die Verzögerung vor in Form eines Entschädigungsanspruchs in Höhe von Euro 1.200 für jedes Jahr der Verzögerung, monatlich berechnet; ein wirksamer Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer wird dadurch nicht erreicht.
- Angemessenheit der Verfahrensdauer: Sie bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalles (Abs. 1 Satz 2), insbesondere nach der Schwierigkeit, der Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten sowie nach dem Vorliegen verfahrensverlängernder Umstände wie Beweisaufnahmen, Sachverständigengutachten, Mehrzahl von Verfahrensbeteiligten usw. Nach Auffassung des BFH gilt für ein „normales“ FG-Verfahren die Vermutung, dass die Verfahrensdauer angemessen ist, wenn das Finanzgericht „gut zwei Jahre“ nach dem Klageeingang Maßnahmen trifft, die das Verfahren zu einer Entscheidung führen und es danach nicht längerfristig unbearbeitet bleibt (BFH/NV 2014, 1050 und 2015, 33). Der BFH-Rechtsprechung liegt die Systematisierung des Verfahrensablauf in drei Phasen zugrunde (Schriftsatzwechsel; Ruhepause im Hinblick auf andere beim Senat anhängige Verfahren; Herstellung der Entscheidungsreife; grundlegend dazu Kulosa, HFR 2013, 617, Juristische Mitteilungen 2014, 298). Auch wenn die Feststellung der Unangemessenheit eine „abschließende Gesamtwürdigung“ gebietet, liegt der Schwerpunkt der Prüfung in der zweiten Phase, in der das Verfahren schriftsatzmäßig ausdiskutiert ist und beim Senat unbearbeitet herumliegt. M.E. wird man bei einer Gesamtverfahrensdauer ab Erhebung der Klage unter vier Jahren nur unter ganzbesonderen Umständen (z.B. besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens) Chancen auf eine Entschädigung haben. Sie erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge; § 198 Abs. 3 GVG). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird, und kann frühestens nach 6 Monaten wiederholt werden (§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG).
- Entschädigung: Der Entschädigungsanspruch ist nicht im Ausgangsverfahren, sondern mit einer eigenständigen Entschädigungsklage geltend zu machen (§ 201 GVG), für die in allen Fällen der BFH zuständig ist. Die Durchsetzungsklage kann frühestens 6 Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden und muss spätestens 6 Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Verfahrensentscheidung erhoben worden sein (§ 198 Abs. 5 GVG).Die Entschädigung beträgt EUR 1.200 für jedes Jahr der Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) und wird bei einem nicht vollen Jahr zeitanteilig abgerechnet. Dabei stellt der BFH nicht auf die Gesamtdauer eines FG-Verfahrens oder eines BFH-Verfahrens ab. Vielmehr ist für die einzelnen Verfahrensphasen (s. oben) zu prüfen, welcher monatliche Abschnitt der Phasen verfahrensverzögernd war, was zu „verzögerten“ und „nicht verzögerten“ Monaten führt und die Entschädigung auf die Summe der einzelnen monatlichen Verzögerungsabschnitte reduziert.
- Kritik: Angesichts der formellen Hürden, des Verfahrensaufwandes, der Unbestimmtheit des Begriffs der unangemessenen Dauer, des Abstellens auf einzelne Verzögerungsmonate in den Verfahrensphasen und des damit verbundenen Prozessrisikos sowie schließlich der unattraktiven Höhe der Entschädigung dürfte sich ein Entschädigungsverfahren bei den Verfahren der Finanzgerichtsbarkeit wohl nur selten lohnen. Ein effektiver Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer fehlt weiterhin.